Salutogenese komplex

SALUTOGENESE

… Gesundheit und Krankheit gehören also zusammen, sie sind die beiden Seiten einer Medaille, zwei Pole auf der selben Achse. Welcher Pol bei einem Menschen nun überwiegt, hängt davon ab, welche Faktoren über­wiegen, die krankmachenden oder die gesundheitserzeugenden. Interessant bei diesem Ansatz ist, dass jeder Mensch diese Faktoren selbst beeinflussen kann, dass also die Auslöser für Krankheit oder Gesundheit nicht nur durch äußere sondern maßgeblich auch durch innere Faktoren bestimmt werden. Diese inneren Faktoren wie die persönliche Einstellung zum Leben, Lebenskonzepte, Glaubenssätze u.a. wirken verstärkt daran, ob wir uns zum kranken oder gesunden Pol hinbewegen.

Der Trend zum Krankheitspol wird verstärkt durch so genannte „Stressoren“, also Risiko­faktoren, denen mit den persönlichen „Widerstandsressourcen“ Gesundheitsfaktoren gegenüberstehen, die den Trend zum Gesundheitspol verstärken.

Das salutogenetische Modell befasst sich maßgeblich mit der Entstehung von Gesundheit nicht mit der Entstehung von Krankheit wie die Pathogenese. Dabei spielen mehrere Faktoren eine entscheidende Rolle, die nachstehend im Einzelnen behandelt werden. Die wichtigste Rolle spielt dabei das „Kohärenzgefühl“*, im Weiteren das Gesundheits-Krankheitskontinuum, Gesundheitsfaktoren und Risikofaktoren, Stressoren und Widerstandsressourcen.

Das Kohärenzgefühl

Das Kohärenzgefühl bezeichnet eine Grundhaltung, die durch individuelle, psychologische Einflussgrößen bestimmt wird, soziale Faktoren eine Rolle spielen und vor allen Dingen die eigene Weltanschauung, die Einstellung dem Leben und der Welt gegenüber. Letzteres wird maßgeblich durch die Persönlichkeits- und spirituelle Entwicklung jedes einzelnen Menschen gefördert.

Das Kohärenzgefühl ist ausschlaggebend dafür, wie gut ein Mensch in der Lage ist, seine eigenen Ressourcen zur Erhaltung der Gesundheit und des inneren Wohlbefindens zu nutzen. Die persönliche Entwicklung bringt den Menschen zu einer Art Zuversicht und einem tiefen Vertrauen in das Leben. Diese Einstellung ist dafür verantwortlich, ob ein Mensch Ereignisse und Themen des Lebens als unlösbare Probleme oder als lösbare Herausforderungen betrachtet, denn ein Problem kann nicht ohne seine Lösung existieren, sonst ist es keines.

Je stärker das Kohärenzgefühl ist, desto weniger empfindet ein Mensch alltägliche Belastungen und Stressoren als unüberwindbar. Er kann leichter mit ihnen umgehen und diese Situationen meistern. Dies wiederum senkt die Anfälligkeit gegen Krankheit und bringt ihn weiter zum Gesundheitspol.

Drei Komponenten sind wichtig für das Kohärenzgefühl:
Verstehbarkeit
Handhabbarkeit
Bedeutsamkeit

Die Verstehbarkeit ist der explizite Kern des Kohärenzgefühls. Sie bezieht sich auf das Ausmaß, wie wir innere und äußere Einflüsse als sinnhaft wahrnehmen. Wenn wir die Einflüsse als geordnet, strukturiert und klar erkennen, die tieferen Zusammenhänge der Situation und des Lebenshintergrundes verstehen, verliert das Leben seinen ungeord­neten, chaotischen und unerklärlichen Schrecken. Wir verstehen die Zusammenhänge der Situationen und des Lebens und erreichen das Verständnis, dass es keine Zufälle gibt und wir die Architekten unseres eigenen Lebens sind. So bleibt uns immer häufiger die Flucht in die Krankheit erspart.

So werden viele Ereignisse und Einflüsse im Leben vorhersagbar oder können, wenn sie unverhofft eintreten, besser eingeordnet oder erklärt werden: „Danke für diese Situation, dies ist meine nächste Entwicklungsstufe“!

Die Handhabbarkeit gibt das Ausmaß an, wie viel eigene Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Herausforderungen des Lebens leichter zu begegnen. Diese Ressourcen können die ureigensten sein oder auch solche, die von anderen abrufbar sind wie z.B. Menschen, denen wir ein großes Vertrauen entgegen bringen, auf die wir wirklich zählen können. Dies können sein der Ehepartner, Familienmitglieder, gute Freunde oder Kollegen, ein Arzt oder Psychologe unseres Vertrauens, unser persönlicher Coach oder, wenn wir so wollen, Vertrauen in Gott.

Die Nutzung dieser Ressourcen lässt uns beim Eintreten von belastenden Ereignissen nicht mehr in die Opferrolle abrutschen, sondern macht sie für uns handhabbar. Sicher gibt es immer wieder Situationen im Leben, die wir nicht umgehen können, wir können sie aber lernen handzuhaben, sie zu meistern, wenn wir uns auf unsere Ressourcen besinnen und sie einsetzen.

Die Bedeutsamkeit ist das Ausmaß, in dem wir das Leben emotional als sinnvoll empfinden. Sie gibt uns das Gefühl, dass wenigstens einige der vom Leben gestellten Probleme und Anforderungen es wert sind, Energie in sie zu investieren, sich für sie einzusetzen und sich ihnen zu verpflichten. Wir empfinden so diese Anforderungen nicht mehr als Lasten, die wir gerne loswerden wollen, sondern als Herausforderungen, die wir gut handhaben können.

Sicherlich werden wir auch bei einem hohen Ausmaß an Bedeutsamkeit nicht unbedingt glücklich sein über den Tod eines nahe stehenden Menschen, über die Notwendigkeit, sich einer schweren Operation zu unterziehen oder darüber, aus einem langjährigen Job entlassen zu werden. Wir sind aber in der Lage, diese uns auferlegten Herausforderungen bereitwillig anzunehmen, können ihnen eine Bedeutung beimessen und unser Möglichstes tun, sie mit Würde zu meistern.

Unter Berücksichtigung dieser drei Komponenten hat Antonovsky das Kohärenzgefühl dann folgendermaßen definiert:

Das Kohärenzgefühl ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass,

die Stimuli (Reize), die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;

einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;

diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.

Das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum

Wie eingangs schon angesprochen, war Antonovsky der erste, der die beiden Begriffe Gesundheit und Krankheit aus einer anderen Perspektive betrachtete. Aus seiner Sicht sind Gesundheit und Krankheit nicht so strikt voneinander zu trennen. Im Gegenteil, beide gehören unmittelbar zusammen als ständig wechselndes Gegenpolpaar. Antonovsky hat hierbei die Vorstellung eines Kontinuums mit den Polen Gesundheit / körperliches Wohlempfinden und Krankheit / körperliches Missempfinden. Dabei pendelt ein Mensch im Laufe seines Lebens ständig auf der Achse zwischen beiden Polen Gesundheit und Krankheit hin und her. Es gibt dabei keinen normativen Zustand. Daher ist es wichtig, um einen stärkeren Trend zum Gesundheitspol zu erreichen, dass wir unsere Aufmerksamkeit im Wesentlichen nicht auf Krankheit richten (Pathogenese / Krankheitsorientierung), sondern auf Gesundheit fokussieren (Salutogenese / Gesundheitsorientierung).

Gesundheitsfaktoren und Risikofaktoren

In der Schulmedizin stehen krankheitsauslösende Faktoren im Mittelpunkt. Dies können sein Bakterien, Viren, Pilze, Gifte etc., weiterhin krankheitsauslösendes Verhalten wie Rauchen, Trinken, Gebrauch von Drogen, aber auch psychische Einflüsse wie Ängste, Depression, Neurosen u.a. In der medizinischen Forschung geht es überwiegend darum, Risikofaktoren zu identifizieren, die Krankheiten auslösen.

Der salutogenetische Ansatz richtet sein Augenmerk darauf, verschiedene Gesundheits­faktoren zu finden, mit denen er sein Leben so einrichten kann, dass er gesund bleibt (vergl. Kohärenzgefühl).

Stressoren und Widerstandsressourcen

Stress wird laut Duden definiert als starke körperliche und seelische Belastung, umgangssprachlich wird auch oft nur von Ärger gesprochen. Antonovsky spricht von einem physiologischen Spannungszustand. Dies heißt für ihn zunächst, dass sich ein Mensch in einer für ihn ungewohnten Situation befindet und nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Unter Stressoren versteht Antonovsky physikalische, biochemische oder psychosoziale Situationen oder Einflüsse wie Einwirkung von Waffengewalt, Hungersnot, Umweltkatastrophen, Epidemien, die so stark sind, das sie unmittelbar auf den Gesundheits­zustand einwirken.

In der Nachkriegszeit, speziell in den Industriestaaten, stand dies aber nicht mehr so sehr im Vordergrund. Allerdings hat sich die Palette der Stressoren in der heutigen Zeit wesentlich erweitert durch die Globalisierung, die IT-Bereiche, Internet etc., wobei  Epidemien, Umweltkatastrophen und Kriege wieder deutlich an Einfluss zugenommen haben.

Allgemein werden heute drei Arten von Stressoren unterschieden, chronische Stressoren (Risikofaktoren), wichtige Lebensereignisse und akute tägliche Widrigkeiten.

Chronischer Stress umfasst das Phänomen anwachsenden oder dauerhaften Mangels, anhaltenden Verlusts, dauerhafter Depression oder die kontinuierliche Erfahrung inadäquater Ressourcen. Hierbei sollte aber auch unter den Aspekten aus dem eigenen historischen Kontext gesehen werden wie auch der Kultur, der Gruppenzugehörigkeit, der sozialen Rolle, der interpersonellen Situation, dem Temperament und der Persönlichkeit. Je nach dem, zu welchen Lebenserfahrungen diese Aspekte beitragen, führen sie zu einem starken oder schwachen Kohärenzgefühl. Haben die Lebenssituationen und daraus resultierenden Erfahrungen zu einem schwachen Kohärenzgefühl geführt, sind sie also nur schlecht oder gar nicht gehandhabt worden, führen sie zur Auswirkung bleibender, chronischer Stressoren. Bei Meisterung und positiver Lebenserfahrung ergeben sich durch das starke Kohärenzgefühl chronische Ressourcen, die immer wieder helfen, diese Lebenssituationen in den Griff zu bekommen und die Tendenz zum gesundheitlichen Pol zu verstärken.

Weitere Stressoren entstehen durch herausragende, wichtige Lebensereignisse wie Tod eines Angehörigen, Scheidung, Kündigung, Familienerweiterung, Karrieresprung, Pensionierung u.a.m. Diese könnten auch als Stress-Lebensereignisse bezeichnet werden. Oft sind solche Ereignisse an sich nicht so wichtig wie die daraus erwachsenden Konsequenzen. Diese resultierenden Ereignisketten rufen Anspannung hervor. Wie diese sich wiederum auswirkt, ob schädlich, neutral oder förderlich, hängt von der Stärke des jeweiligen persönlichen Kohärenzgefühls ab.

Im täglichen Arbeitsprozess wurden als Arbeitsstressoren zusammengefasst: hoher Arbeitsdruck, starke Kontrolle durch Vorgesetzte, fehlende Autonomie und fehlende Klarheit. Als Gegenstück die Arbeitsressourcen mit Berufsinvolviertheit, Zusammenhalt unter den Kollegen und Unterstützung durch den Vorgesetzten. Natürlich könnte man die Frage stellen, ob nicht der Gegenpol eines Stressors automatisch eine Ressource darstellt. Dann wäre eine geringe Autonomie ein Stressor und eine hohe Autonomie eine Ressource oder eine hohe Berufsinvolviertheit eine Ressource und eine geringe Involviertheit ein Stressor.

Tägliche Widrigkeiten gibt es viele, die hier nicht alle aufgezählt werden können. Diese können sich als Stressoren auswirken aber auch als Ressourcen, je nach Grad des Kohärenzgefühls. Ein paar Beispiele wären das Durchfallen bei der Führerscheinprüfung, eine Beleidigung durch einen Vorgesetzten oder vielleicht ein kleiner Unfall des eigenen Kindes. Ein ungewöhnliches Kompliment oder der Erfolg des Kindes beim Schultheater könnte dagegen die Ressourcen stärken. Wie stark sich diese „Widrigkeiten“ auf das Kohärenzgefühl auswirken hängt wohl davon ab, wie der Einzelne die jeweilige Situation bewertet.

Generalisierte Widerstandsressourcen formulierte Antonovsky auf die Frage wie sich Spannungszustände bewältigen lassen. Zu diesen Ressourcen zählt er körperliche Faktoren (Intelligenz, Bewältigungsstrategien), soziale Faktoren (soziale Unterstützung, finanzielle Möglichkeiten), kulturelle Faktoren (kulturelle Stabilität) und Persönlichkeits­faktoren (persönliche und spirituelle Entwicklung und Stabilität). Bei seiner Forschung diskutierte Antonovsky eine Vielzahl von möglichen generalisierten Widerstands­ressourcen von Immun­verstärkern bis hin zur Magie. Die Frage, was sich als generalisierte Widerstands­ressourcen eignet, wobei mit generalisiert gemeint ist, dass sie in jeglicher Situation wirken, beantwortete er mit dem Konzept des Kohärenzgefühls.

 

Literatur:

Aaron Antonovsky, Salutogenese – zur Entmystifizierung der Gesundheit
dgvt-Verlag, Tübingen, Deutsche Ausgabe von Alexa Franke

Petra Thomas, Antonovoskys Modell der Salutogenese und sein Stellenwert in der aktuellen gesundheits­politischen Diskussion
GRIN-Verlag für akademische Texte, München

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